Was macht den Wert und Erfolg eines Lebens aus? Wie bleiben wir ein Liebespaar, wenn wir als Team funktionieren? Welcher Sinn und wie viel Unsinn steckt in Selbstoptimierung? Warum bin ich die ganze Zeit rasend, aber gleichzeitig entsetzlich müde? Und was sollen plötzlich all diese Fragen? Die wundervoll ehrlichen Texte über Mutterschaft und Falten, Sex und niemals endenden E‐Mail‐Verkehr, vermeintlich perfekte Jeans und Solidarität unter Frauen nähern sich mit Midlife mit großer Zuneigung an.
‐ Myself
‐ Welt am Sonntag
‐ Harper's Bazaar
‐ Ohhhmhhh.de
Im Herbst 2021 flog ich mit drei meiner ältesten Freundinnen ‐ die, die ich am längsten kenne, aber auch: die ältesten ‐ für ein langes Wochenende ans Meer. Auf die Idee für diese Reise waren wir auf der Geburtstagsparty zum Vierzigsten von einer von ihnen gekommen, auf der wir bis morgens tanzten, was sich nicht mehr so oft ergibt wie früher und erst recht nicht in dieser Konstellation: Wir kennen einander seit fast dreißig Jahren, sehen uns aber nur selten, da wir über drei Länder verstreut leben. Die Gin‐Tonic‐Laune, in der wir den Plan zu «nur wir vier» gefasst hatten, hielt länger an als der Kater am Morgen danach. Während wir die Reise einige Jahre zuvor entweder sofort als Schnapsidee abgetan oder auf später vertagt hätten ‐ später, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind; später, wenn der Alltag nicht so eng getaktet ist; später, wenn die Urlaubstage verfügbarer sind ‐, fing ich im Anschluss an die Party sofort an, nach freien Wochenenden und Flügen zu suchen. Ich war plötzlich sehr in Eile, nicht «irgendwann mal» zusammen zu verreisen, sondern jetzt. Zum Zeitpunkt der Party war meine Freundin S. bereits 41; sie hatte die Feier des runden Geburtstags vom Vorjahr nachgeholt ‐ die Pandemie.
Die Pandemie hatte die Zeit sowohl ausgebremst als auch beschleunigt. Einerseits häuften sich mit jedem weiteren Lockdown die Murmeltiertage ‐ und ich sah zwar zunehmend so zerzaust aus wie Bill Murray, der in Und täglich grüßt das Murmeltier bekanntermaßen gestraft ist, die gleichen 24 Stunden immer wieder zu erleben, würde aber, das wurde bald klar, keine Murray‐gleiche Läuterung erleben. Im Verlauf des Films lernt er unter anderem, Klavier zu spielen und Eisskulpturen zu schnitzen. Ich dagegen würde nicht das Wohnzimmer streichen, eine Sauerteigkultur ansetzen oder Marcel Prousts siebenteiligen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lesen, da ich reichlich damit zu tun hatte, im Homeoffice und bei unregelmäßiger Kinderbetreuung von Tag zu Tag zu kommen. Andererseits tickte die Uhr weiter. Die Pandemie, es wird niemanden überraschen, hat die Alterung der Menschen rasant vorangetrieben. An der Stelle meiner Freundin wäre ich auch noch mal vierzig geworden.
Diese Zeit ließ sich nicht zurückgewinnen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich etwas Fundamentales aus ihr gelernt hatte, außer dass man sich an fast alles gewöhnt, ich zum Beispiel daran, mich sechs Monate lang morgens im Halbdunkeln an‐ und abends wieder auszuziehen, weil ich keine Energie übrig hatte, eine Glühbirne im Schlafzimmer auszuwechseln. Wie könnte ein anderes Danach aussehen? Was würde ich aus dem Davor behalten wollen? Ich wusste nur, was mir fehlte: die Leichtigkeit. Ein Wochenende, das ich mir unter normalen Umständen wieder ausgeredet hätte, klang danach. Meine Freundinnen hatten ähnliche Gedanken, denn wir fanden die Zeit zum Zusammensein. Warum warten? Und worauf? Nächstes Jahr? Wer weiß, wie das werden würde.
Am zweiten Tag auf der Insel hielten wir auf einem Parkplatz, um Scheibenwischerflüssigkeit nachzufüllen. Besser gesagt: Wasser, das wir aus einer halb leeren Trinkflasche hoffentlich in die richtige öffnung gossen. Neben uns parkte ein um einiges weniger verstaubter Wagen, auf der Beifahrerseite eine Frau, die uns zusah. Als wir wieder eingestiegen waren, sagte S.: «Kamt ihr euch auch gerade vor wie Teenager, die zum ersten Mal mit dem Auto unterwegs sind und von einer Erwachsenen beobachtet werden?» Die Frau mag gar nicht viel älter gewesen sein als wir, aber alles an ihrer Erscheinung ‐ der SUV, das gepflegte Auftreten, die vom Küstenwind unbeeindruckte Frisur ‐ wirkte erwachsener, als wir uns erschienen, mit sandigen Füßen und Spice Girls im Autoradio.
Als wir weiterfuhren, dachte ich darüber nach, warum sich vier Frauen um die vierzig wie Jugendliche fühlten, obwohl wir längst nicht mehr in Schullandheimen die Ferien verbringen, sondern in Hotels mit Pool. In einem Feriencamp auf dem dänischen Land hatten wir uns kennengelernt, wo ich nicht nur die Muttersprache meiner Mama lernte, sondern über vier Sommer hinweg Wissenswertes über Marlboro Lights und Engtanz erfuhr. Formende Jahre. Neben Dänisch lernte ich dort Englisch; und das Selbstvertrauen, Jahre später allein nach England zum Studieren zu gehen, nahm ich aus diesen Sommern auch mit. Es ist ein genialer Trick der Zeit, dass sie in prägenden Momenten stehen bleibt. So muss man sich nie von ihnen verabschieden, auch wenn neue Erinnerungen dazukommen. Für mich werden diese Frauen auf ewig ausgefranste Denim‐Shorts tragen und in Zitronenwasser getränkte Haare. Was hatten wir damals im Kopf, außer den Nonsens zu glauben, dass die Säure unsere Strähnen in der Sonne blondieren würde? Sicher verschwendeten wir nicht auch nur einen Gedanken daran, wie das Leben mit vierzig sein würde.
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Zu meinem eigenen runden Geburtstag hatte ich eine Liste von Fragen an dieses Alter aufgeschrieben, aus der schließlich die Idee zu diesem Buch wurde. Eine Frage, die dort nicht auftauchte und die ich mir erst später stellte, als ich schon mittendrin war in den Vierzigern: Warum werden wir spätestens ab diesem Alter nicht mehr gefragt, was wir noch werden wollen?
«Ich bin in einem Teil meines Lebens angekommen, in dem sich die Wahrnehmung meiner Weiblichkeit stark verändert hat», hat die Schriftstellerin Rachel Cusk über das mittlere Alter gesagt. «Wir Frauen stecken über Jahre fest in einer relativ klar strukturierten biologischen Phase voller Erwartungen, aber wie es danach weitergeht, muss man selbst herausfinden. [ . . . ] Es scheint fast so, als ob sich im Leben eine kleine Tür findet, durch die jede Frau ab einem gewissen Alter hindurchmuss. Dahinter herrscht Wildwuchs, es gibt keinen Kompass, keine Strukturen.»
Geschichten von Aufbruch sind Geschichten von Jugend. Doch die interessanteren Erzählungen, und da mag ich voreingenommen sein, höre ich von mittelalten Frauen, die schon einiges erlebt haben und darüber berichten können. Ihre Bildungsromane interessieren mich. Ihre Stürme und ihr Drängen in eine neue Lebensphase. Ihre Wege, wenn sie die Tür öffnen, wie Rachel Cusk sagt, womit sie vielleicht das beste Bild für diese Zeit gefunden hat.
Von ihnen handelt dieses Buch.
Es ist nicht nur für Frauen. Es ist ebenfalls nicht ausschließlich für Menschen, die Wein trinken, wie man anhand des Buchumschlags annehmen könnte. Die Idee zu dem Design hatte mein Mann. Wofür ich ihm dankbar bin, denn er hätte ja auch auf die Idee kommen können, ein Buch, das seine Frau über das Älterwerden schreibt, mit einer Tasse Kamillentee zu illustrieren. Auch Tee wird jedoch eine Rolle spielen. Das nur zur Warnung. Es ist nicht mal ein Buch nur für Vierzigjährige. Aber es geht vor allem um Frauen in diesem Alter. Es ist mein Versuch, für eine Weile an den Ort zurückzukehren, an dem meine Freundinnen und ich eines Abends am Pool saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen. Früher wären wir trotz «Badeverbot ab 20 Uhr» reingesprungen. Heute tauchen wir in die Tiefe unserer Leben ein. So ändern sich die Zeiten. Ein Glück.